Eigenwillig

Ich war eben im Gruppentreffen von Narcotics Anonymous, zum ersten mal am Freitag abend, sonst bin ich immer Mittwochs dort. Ein paar Leute kannte ich vom Mittwoch, die meisten noch nicht.

Eine Grundregel bei NA-Treffen ist es, dass nicht nach draußen getragen wird, was im Treffen besprochen wird, deswegen werde ich das natürlich auch nicht tun, aber ich schreibe drüber, was mir beim Treffen für Gedanken kamen.

Es ging um den Eigenwillen, und die Frage, wem man in der Vergangenheit durch seinen Eigenwillen geschadet hat. Ich dachte mir zuerst, "ach ja, ich bin ja eher einer von den Süchtigen, die sich einigeln, abkapseln, ich habe in meiner Drauf-Zeit nur mir selbst geschadet".

Aber um so länger ich drüber nachdachte, um so mehr wurde mir klar, dass das nicht stimmt, sondern dass ich die "Leichen in meinem Keller", oder Skelette im Schrank, wie der Ami sagt, nur ganz gut weggesperrt hatte.

Eigenwillen bedeutet, dass man unbedingt seinen eigenen Kopf durchsetzen muss, egal, was die Konsequenzen sind, auch wenn man über Leichen gehen muss. Eigenwillen bedeutet, dass man gegen den Willen seiner Höheren Macht handelt - es gibt den Willen der Höheren Macht, und es gibt den Eigensinn, und beide stehen sich gegenüber, und es kann zu nichts Gutem führen, wenn man seinen eigenen Willen gegen den seiner Höheren Macht durchzusetzen versucht. Es führt zu Unglück und Zerstörung.

Das Schlimmste, was ich in der Zeit meiner aktiven Sucht gemacht habe, war damals, 1999, als ich besessen war von dem Willen, unbedingt mit einer gewissen Frau zu schlafen. Sie war genauso geistig krank und verwirrt wie ich, und ich sie hatte bereits einmal ein Kind von mir abgetrieben.

Ich hätte sie in Ruhe lassen sollen, wir taten uns gegenseitig nicht gut, aber ich musste unbedingt meinem Eigenwillen folgen und habe sie so lange bedrängt, bis wir wieder zusammen im Bett landeten. Und sie wurde zum zweiten Mal schwanger, und trieb zum zweiten mal in dem Jahr ab.

Beim ersten Mal hatte ich nicht viel davon mitgekriegt, da war sie in München und ich in Berlin, beim zweiten war sie hier. Ich brachte sie in die Klinik, und ich dachte die ganze Zeit: "Da drinnen, in dem Bauch, ist ein winziges Wesen, das könnte dein Sohn oder deine Tochter sein, und gleich wird das einfach weggemacht."

Es war schrecklich, aber viel schrecklicher war es für sie. Sie war richtig traumatisiert, hatte seitdem panische Angst vor dem Schwangerwerden. Damals hatte ich mir vorgenommen, das irgendwie zu verarbeiten, vielleicht so eine Art Trauerfeier für die beiden nicht geborenen Kinder abzuhalten oder so was - natürlich blieb es bei dem Vorsatz. Ein Freund von mir bekam Anfang 2000 eine Tochter, und immer wenn ich die sehe denke ich mir, so alt wie sie könnte jetzt auch mein Kind sein.

Ich habe eben versucht, diese Frau anzurufen, um mit ihr über alles zu reden, aber das Telefon sagt nur "vorübergehend nicht erreichbar". Das letzte Mal, dass ich mit ihr telefonierte, ist drei Monate her, und es ging ihr sehr schlecht (nicht wegen der Abtreibungen, sondern aus anderen Gründen).

Ich denke fast jeden Morgen, wenn ich bete, an sie und bitte meine Höhere Macht, sie zu beschützen. Sie war ja schon immer so drauf, mit beten und "Lieber Gott" und so, während ich erst seit neuerem auf den Trichter komme.
DantesMuse - 18. Mär, 20:54

Ich finde die Idee der Trauerfeier richtig gut, hilft es doch, Abschied zu nehmen. Warum holst du die Feier nicht einfach nach? Schließlich kann es dafür doch nie zu spät sein?!? Es braucht nicht einmal viel Aufwand: Geh dorthin, wo du dich wohlfühlst, wo du in Ruhe nachdenken kannst (ein Wald, ein Park, ein Friedhof, ein Denkmal, ...) und nimm Abschied.

Es hilft dir, damit fertigzuwerden, damit abzuschließen, und auch dabei, dein "altes Leben" abzustreifen. Jedenfalls würde es mir so gehen ...

tyrion - 18. Mär, 21:02

Vielleicht werde ich das wirklich mal nachholen. "Das alte Leben abstreifen", darum geht es ja auch bei den 12 Schritten von NA, einer von diesen Schritten ist, dass man eine Liste von den Leuten macht, denen man geschadet hat, und versucht, den Schaden wieder gut zu machen.
DantesMuse - 18. Mär, 21:36

Ohne die Schritte zu kennen: Ich glaube auch, dass es anders kaum geht, weil man eben doch schnell wieder im "alten Leben" versumpfen kann, wegen der Vorwürfe, die man sich macht etc.

Die Gefahr dabei ist natürlich: Wenn du Schaden wieder gut machen willst, musst du dich überwinden, dich damit unter Stress setzen, dich quasi erniedrigen, den Leuten wieder gegenüber treten, deine Fehler eingestehen. Und du musst damit rechnen, dass viele Menschen deinen Schritt eben nicht honorieren werden, dich immer noch ob deiner Taten beurteilen, die du früher getan hast. Hart und steinig ist dieser Weg, aber befreiend. Ich hoffe, du hast jemanden, der dich bei diesen Schritten unterstützt, dich auffängt, wenn möglich, dich zurechtweist, wenn nötig? Und ich hoffe, du lässt das dann auch zu?
tyrion - 18. Mär, 22:28

Die Leute habe ich, die mich unterstützen und auffangen, in meiner NA-Gruppe. Ich bin aber erst seit ein paar Monaten dabei und noch am Anfang meiner Entwicklung. Neuankömmlinge bekommen immer eine Liste mit Telefonnummern, bei denen sie immer anrufen können, wenn Not am Mann ist bzw. der Suchtdruck quält. Bisher habe ich noch keinen Gebrauch davon gemacht...
DantesMuse - 18. Mär, 23:33

Bevor ich antworte, mein Hintergrund: Mein bester Freund (von dem ich gegenwärtig nicht weiß, ob er lebt oder tot ist), war/ist dem Heroin verfallen. Er wollte mich aber nicht in seine Probleme hineinziehen, und als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, konnte ich ihn (mit 18) vom Gegenteil nicht überzeugen. Von diesem 12-Schritte-Programm hat er nie gesprochen. Das ist sogar ziemlich schade. Denn ich als Heidin hätte sogar in dem Alter Ansatzpunkte gefunden, um ihm endlich als Freundin helfen zu dürfen. ;o) Doch ich will diese Schritte nicht verurteilen, wenn sie dir helfen, denn letztlich ist das Christentum eine gute Sache, sagt sie doch: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Nur, abgesehen von Religion oder Nicht-Religion, scheint es mir wichtig, jemanden außerhalb des Suchtkreises zu haben, der Verständnis hat, hilft, meckert, schreit, wenn nötig ... verstehst du, was ich meine?
tyrion - 19. Mär, 07:55

Klar verstehe ich das, habe ich auch. Es ist ja eher so, dass ich keinen Kontakt zu den Leuten aus der Selbsthilfegruppe außerhalb der Meetings habe, andererseits habe ich einen Kreis von Freunden, auf die ich mich verlassen kann und die auch auf mich zählen können.

Nur wünschte ich mir manchmal, wenigstens ein paar von ihnen würden auch mit dem Alkohol aufhören - immer dann wenn ich mittags anrufe: "Hey! Wir wollten doch heute schwimmen gehen!" - "Sorry, ich kann nicht, bin gestern abend übel abgestürzt." Meine Freunde sind nicht alles Süchtige, aber bei einen paar sehe ich schon Tendenzen, die mir Sorgen bereiten, weil ich sie von mir kenne.

Übrigens gibt es für mich einen großen Unterschied zwischen Religion und Spiritualität! Religion ist für mich institualisierte Spiritualität, damit habe ich nichts am Hut. Bin noch nicht mal getauft.

Ich drücke Deinem Freund die Daumen, dass er den Absprung schafft. In meiner NA-Gruppe gibt es viele, die früher "dem Heroin verfallen" waren - wenn ich die jetzt angucke, kann ich das kaum glauben, weil sie derart zuversichtliche, Energie ausstrahlende Menschen sind. Ich hoffe, Du machst Dir keine Vorwürfe, dass Du ihm nicht hast helfen können.
DantesMuse - 23. Mär, 14:30

*lach* Du wirkst auch nicht so, als müsste man dich "aus der Gruppe" holen, weil es ne Sekte ist oder so. Und danke für die Blumen (siehe dein nächster Eintrag). ;o) Nein, ich mache mir keine Vorwürfe, eben weil ich ja ohnehin nichts dran ändern kann, aber schade ist es halt schon. Ich finde, jeder Mensch, der da wirklich rauskommt, ist ein Gewinn. Ich drück dir - meinem Freund und allen anderen natürlich auch - alle Daumen! Ich begleite dich auch weiter, wenn auch nur als Bloggerin. Ist ja schließlich besser als nix! ;o)

Liebe Grüße,



DantesMuse
freakchica - 21. Mär, 23:32

ziemlich heftig&unter die haut gehend, dein blog hier.
irgendwie kennt jeder wen, der schon mal auf der gasse war und dem stoff verfallen, aber -puh- über die eigenen probleme zu reden. find ich mutig. kann da nicht mithalten, das bisschen alkoholismus in meiner verwandschaft, das langsam auf mich übergreift ist nur halb so wild.

ich wünsch dir auf alle fälle alles gute, und dass du das so geregelt kriegst, dass es für alle am ehesten stimmt. ist nicht immer einfach, manchmal ist die scheinbar beste lösung, die beschissenste, oder eben nicht mal ne lösung (skelette im schrank)

its my wife, its my life
cause i am a man to my vein


alice

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